FILMSAMSTAG

Filmsamstag am 10. November 2007

Kino Babylon-Mitte, Rosa Luxemburg Str. 30, 10178 Berlin, 18 Uhr


Die Geschichte vom Kartoffelbrei
vorgelesen von Karl Heil
mit Dia-Projektion, 3min

K o n t i n u u m
1990 52min 16mm s/w
von Bärbel Freund

Darsteller Marcus Freund
Kamera Philipp v. Lucke
Ton Maria Lang

„Robinson Crusoe“ war in der Kindheit mein Lieblingsbuch. Ich habe es immer wieder gelesen.
Das war jemand, der aus der Not viele Berufe sich aneignen mußte, um zu überleben. Er war Bauer, Tischler, Schneider, Bäcker, Jäger und sogar, als das Gröbste geschafft war, ein Schirmmacher. Später las ich „Bouvard & Pécuchet“ von Flaubert. Das waren zwei alte Schreiber, die es sich leisten konnten durch Erbschaft auf dem Land sich zurückzuziehen und modellhaft viele Berufe durchzuprobieren.
„Til Ulenspiegel“ eilte von Beruf zu Beruf, nahm seine Meister immer zu wörtlich, provozierte den Rauswurf und schiß zum Abschied auf den Tisch.
Als mein kleiner Bruder in der 13. Klasse war, bekam er von der Berufsberatung des Arbeitsamtes ein Buch überreicht: Beruf aktuell. Darin waren die Berufe alphabetisch geordnet, mit kurzen Erklärungen. Ich habe ihm zum Spaß ein paar daraus vorgelesen. Abfalltechniker, Altenpfleger, Apotheker, wie
wär’s ? Er wußte nicht, was er werden sollte. Daraus entstand die Idee zu meinem Film. „Kontinuum“ ist an einem Tag gedreht worden. Er hat 5 Schnitte, immer dann, wenn eine 120m Filmkassette zuende ist. Während der 55 Filmminuten wird es draußen langsam dunkel. Es werden 696 Berufe von A-Z (im off) vorgetragen, und man sieht den jungen Mann, wie er mit „ja“, „vielleicht“ oder „nein“ antwortet und manchmal, wenn er gefragt wird, nähere Auskunft darüber gibt, was er von einem Beruf hält.

Bärbel Freund


K o n t i n u u m

Als wir Ende der siebziger Jahre unsere Aufnahmeprüfung hier in Berlin an der Filmakademie machten, war ein Prüfungsthema Berufswunsch / Berufswirklichkeit. Ich befragte einen Jungen aus meiner Nachbarschaft, der in einem Waisenhaus lebte. Er machte eine Lehre in einem Geschäft für Garten-
zubehör, wollte aber eigentlich Privatdetektiv werden. Ohne Leidenschaft übte er seinen Beruf aus, und in seinem Kopf lebte die Vision ein anderer zu sein, als er es eigentlich war.

Bärbel hat ihren Bruder Marcus gefragt, was er werden möchte, nachdem er die Schule beendet hatte. Sie hat keine bohrenden Fragen gestellt, sie hat sich nur manchmal für seine Begründungen interessiert, so daß die Antworten und Kommentare von ihm spontan, ebenso einfach und unverstellt geblieben sind. Allein durch die Vielzahl der Berufe – ich weiß nicht mehr wieviele es sind – und durch die entsprechend vielen Antworten, kristallisiert sich etwas Wesentliches heraus, das auch für den Betrachter zur Ent-
deckung wird.

Es entsteht während des Filmens das Portrait ihres Bruders, der durch das was er will, ebenso wie durch das was er nicht will, sein Wesen zeigt. Einerseits werden Dinge angedeutet, andererseits präzisiert. Diese angedeutete Präzision, diese Sparsamkeit der Mittel erinnern mich an einen Portraitstil des
18. Jahrhunderts, den der Finanzminister (des Königs) Ludwig des 15., Etienne de Silhouette, erfunden haben soll. Im Lexikon steht: Die Silhouette reduziert die Darstellung auf einen schattenhaften Umriß, der jedoch die wesentlichen Merkmale einer Person zum Ausdruck bringt. Solche Silhouetten wurden oft zur Erinnerung an geliebte Personen gefertigt. Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, daß Bärbels Film "Die Silhouette meines Bruders" heißen könnte. Das würde dann mehr das Silhouettenhafte unter-
streichen und weniger die Unaufhaltsamkeit der Fragen in alphabetischer Reihenfolge.
Aber es gibt ja auch die Unaufhaltsamkeit des Films, der ohne Schnitte, nur bedingt durch das Ende einer Filmrolle lückenlos aufzeichnet, was zu sehen ist, was eine sehr reine Form der Dokumentation darstellt.

Ich sah vor kurzem im Fernsehen einen Dokumentarfilm, in dem ein Mädchen von etwa 11 Jahren irgendetwas Belangloses erzählte. Sie sagte nichts besonderes, sie machte nichts besonderes, sondern war einfach da, und der Film, den ich nicht von Anfang an gesehen hatte, war richtig spannend, bis dann plötzlich gewisse tragische Umstände zur Sprache kamen, die wahrscheinlich der eigentliche Anlaß für diesen Film waren. Für mich war dann das Mädchen nicht mehr sie selbst, sondern Mittel zum Zweck Mitleid hervorzurufen. Der Film war kein richtiger Film mehr, sondern rechtfertigte seine Existenz nur durch sein scheinbar heldenhaftes Thema.

Das Schöne an Bärbels Film ist eben die Einfachheit des Sujets, so daß nicht nur für ihren Bruder, sondern auch für die Kamera genügend Raum bleibt, sich zu entfalten. Gerade die Einfachheit der Mittel ruft ja oft die Kreativität erst hervor. Bärbels Vorgehensweise entspricht die zurückhaltende Art und Weise der Filmbilder, und durch den Raum der dadurch entsteht, ist mir der Film als besonders plastisch in Erinnerung geblieben.

Die Beleuchtung wurde vorsorglich morgens, also bei Tageslicht eingerichtet. Dieses künstliche Licht ist, da das Tageslicht dominierte, nur als leicht aufhellende Kontur, kaum sichtbar. Erst wenn es allmählich dunkler wird, treten die Konturen stärker hervor und bilden zuletzt einen Lichtkranz, der sich dann gegen das Dunkel der Nacht deutlich abhebt. Das Gesicht, das anfangs fast im Gegenlicht zu sehen ist, ver-
wandelt sich in ein perfekt ausgeleuchtetes Portrait. Was zuerst dokumentarisch wirkte, bekommt durch die Änderung der natürlichen Lichtverhältnisse Studiocharakter. Je besser wir Bärbels Bruder kennen-
lernen, um so deutlicher ist er auch zu sehen.
Es wurde also filmtechnisch nichts verändert, und trotzdem ist alles verändert einfach dadurch, daß es dunkler geworden ist. Auch das gehört zur Dokumentationsweise dieses Films und gibt gleichzeitig einen Hinweis auf die reale Zeit und die Filmzeit.

Die Reihenfolge der Aufzählung der Berufe schreitet ebenso fort wie es Tag und Nacht wird, wie die Erde sich dreht und entwirft ein Bild unserer Gesellschaft, die diese Berufe erdacht und entwickelt hat. Wenn Bärbels Bruder immer wieder ernsthaft versucht sich für einen Moment in die ihm vorgeschlagenen Berufe hineinzuversetzen, so zeigt er uns durch seine ablehnenden oder zustimmenden Antworten und Kommentare, daß er eigentlich mehr möchte als einen Beruf, der in ein Alphabet paßt. Er zeigt uns auch, daß es schwierig ist, hier eine Deckungsgleichheit zu finden, daß es schwierig ist sich einzufügen.

Man hat das Gefühl neue Berufe erfinden zu müssen, ein Gegenbild entwerfen zu müssen, also eine Art Negativ, wo das Weiß schwarz wird und das Schwarz weiß und wo aus dem Nein ein Ja werden könnte und umgekehrt, und woraus dann vielleicht ein Alphabet der Wünsche werden könnte.

Ulrike Pfeiffer