FILMSAMSTAG

Filmsamstag am 10. Dezember 2005

Babylon-Mitte, Studiokino, um 18 Uhr


Die Verwandlung des guten Nachbarn von Peter Nestler
D 2002, Video, 85 Minuten


Was macht Peter Nestler eigentlich anders in seinen Filmen – woher beziehen sie ihre Spannung?
Wenn zum Beispiel ein TV-Journalist ein 'Vergangenheitsthema' behandelt, sieht er vor seinem inneren Auge eine bestimmte, nun vergangene Epoche, die mit Bildern, Texten und Zeitzeugen 'abgedeckt' und 'rekonstruiert' werden muss. (Das ist der TV-Normalfall.) Peter Nestler hingegen, so glaube ich, geht genau andersrum vor: er sieht immer die Gegenwart vor sich – er nimmt sie unbedingt, das heisst so, dass jene Vergangenheitsdimension in ihr aufscheint. Und das Erstaunliche ist: er muss anscheinend nur ein bisschen an der Oberfläche kratzen und schon tut sich jene Dimension auf. (In Die Verwandlung des guten Nachbarn bückt sich Thomas Toivi Blatt auf dem Gelände in Belzéc und hat einen Knochen-
splitter in der Hand.) Es geht also sowohl psychisch wie materiell um eine Archäologie der Gegenwart.
Das ist ein anscheinend kleiner oder geringfügiger Perspektivwechsel – aber er hat es in sich. Das bedeutet nämlich, dass nicht 'ein Thema und noch ein Thema' abgehandelt wird (so wie in der Volks-
hochschule oder eben beim Bildungsfernsehen), sondern dass es da eine Öffnung gibt: der Film, durch seine sinnliche Materie, den Zuschauer anders angeht. Es findet eine andere Art von Inanspruchnahme statt, die etwas mit filmischer Kraft und Organisiertheit zu tun hat – und in die sind auch die Sprache und der von Nestler gesprochene Kommentar mit einbegriffen. Das 'Vorortsein' ist wirklich vor Ort, mit allen Unwägbarkeiten und Fügungen, die das in sich birgt.

Nach seinem Weggang nach Schweden (bereits Ende 1966) äusserte Peter Nestler in einem Interview: "Meine Erfahrung zu den Grenzen 'sozialer Dokumentation' im TV ist, dass die Grenze wie eine Beton-
wand ist, und die Möglichkeiten sind die Missverständnisse. Vorausgesetzt man ist zu Schweinereien nicht bereit. Statt zu zeigen, was ist, was man erfahren hat, zensieren viele sich selbst (man will ja noch einen Film machen), finden einen Aufhänger, was Exotisches, und von dem, was vor der Kamera war, ist nichts geblieben. Das ist der Anfang des schlechten Gewissens, und hier beginnt der 'brauchbare Fern-
sehreporter'."

Für Die Verwandlung des guten Nachbarn hat Peter Nestler im November 2001 und April 2002 mit Thomas Toivi Blatt in Polen gedreht, unter anderem in Izbica und Sobibór. Blatt ist einer von 53 Sobibór-
Häftlingen, die den Krieg überlebt haben. (Siehe auch: Thomas Toivi Blatt, "Nur die Schatten bleiben. Der Aufstand im Vernichtungslager Sobibór", Berlin, 2001).

Der Filmemacher Stefan Hayn wird das Buch des Psychoanalytikers Ludvig Igra vorstellen, der die Geschehnisse im Film kommentiert und selbst Betroffener ist: "Die dünne Haut zwischen Fürsorge und Grausamkeit". Es ist von Peter Nestler nach dem Tod von Igra, 2003, vom Schwedischen ins Deutsche übersetzt worden (IATROS Verlag, Nierstein 2004).

Johannes Beringer