FILMSAMSTAG

Filmsamstag am 15. November 2003

Filmkunsthaus Babylon, Rosa-Luxemburg Str.30, 10178 Berlin, 20 Uhr


K o n t i n u u m
Bärbel Freund, 1990, 52min, 16mm

"Robinson Crusoe" war in der Kindheit mein Lieblingsbuch. Ich habe es immer wieder gelesen.
Das war jemand, der aus der Not viele Berufe sich aneignen mußte, um zu überleben. Er war
Bauer, Tischler, Schneider, Bäcker, Jäger und sogar, als das Gröbste geschafft war, ein Schirm-
macher. Später las ich "Bouvard & Pécuchet" von Flaubert. Das waren zwei alte Schreiber, die
es sich leisten konnten durch Erbschaft auf dem Land sich zurückzuziehen und modellhaft viele
Berufe durchzuprobieren. "Til Ulenspiegel" eilte von Beruf zu Beruf, nahm seine Meister immer
zu wörtlich, provozierte den Rauswurf und schiß zum Abschied auf den Tisch.
Als mein kleiner Bruder in der 13. Klasse war, bekam er von der Berufsberatung des Arbeits-
amtes ein Buch überreicht: Beruf aktuell. Darin waren die Berufe alphabetisch geordnet, mit
kurzen Erklärungen. Ich habe ihm zum Spaß ein paar daraus vorgelesen. Abfalltechniker,
Altenpfleger, Apotheker, wie wär’s ? Er wußte nicht, was er werden sollte. Daraus entstand die
Idee zu meinem Film. "Kontinuum" ist an einem Tag gedreht worden. Er hat 5 Schnitte, immer
dann, wenn eine 120m Filmkassette zuende ist. Während der 52 Filmminuten wird es draußen
langsam dunkel. Es werden 696 Berufe von A-Z (im off) vorgetragen, und man sieht den jungen
Mann, wie er mit "ja", "vielleicht" oder "nein" antwortet und manchmal, wenn er gefragt wird,
nähere Auskunft darüber gibt, was er von einem Beruf hält. (Bärbel Freund)


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K o n t i n u u m

Vergebens bemühen wir uns, den Charakter eines Menschen zu schildern; man stelle
dagegen seine Handlungen, seine Taten zusammen, und ein Bild des Charakters wird
uns entgegentreten. In „Kontinuum“ gibt es keine Handlungen, keine Taten, und
dennoch entsteht das Porträt eines jungen Mannes, der, wenn vielleicht auch noch nicht
so sehr mit der Welt, mit seinen Hoffnungen und Wünschen dafür um so mehr vertraut
ist. Er antwortet – mit „ja“, „vielleicht“ oder „nein“ – auf die von der Regisseurin
(im off) ihm in alphabetischer Folge zugerufenen Berufsbezeichnungen. Auf die ver-
schiedentlich vorgebrachten weiteren Fragen: „Warum nicht?“ oder „Warum?“ gibt
er nähere Auskunft darüber, was er von dem betreffenden Beruf hält. Dabei gerät
dieses Frage- und Antwort-Spiel aber niemals ins Stocken, wie auch die dem Sinken
und Steigen eines Vorhangs entsprechenden, durch die Filmrollen-Wechsel verursachten
momentanen Leerstellen, gerade indem sie es unterbrechen, eine Betonung des
Kontinuums bilden.
Im Bild dieser junge Mann, stehend auf der Schwelle zu einem Balkon, aus Instinkt
das, wovon so wenig Schauspieler einen Begriff zu haben scheinen, beherrschend: mit
Organ und Gebärden ökonomisch zu sein. Um so treffender der Witz, den seine
Antworten, gewollt oder ungewollt, enthalten. Aber dieser Witz geht nicht nur von ihm,
dem Darsteller, aus, sondern steckt in der so einfachen wie großartigen Konzeption
dieses zwischen Jugendwärme und Ironie gewagt hin- und herspielenden, Stück für
Stück zu einem tiefen Zusammenhang fügenden Films.
Vom Bürger verlangt man, daß er einzelne Fähigkeiten ausbildet, um brauchbar zu
werden, und es wird schon vorausgesetzt, daß in seinem Wesen keine Harmonie sei
noch sein dürfe, weil er, um sich auf e i n e Weise brauchbar zu machen, alles übrige
vernachlässigen muß. Nun ist aber dieser junge Mann, verständlicherweise, vor allem
auf das „Kreative“ und „Interessante“ aus, er möchte Lust haben auf eine Sache
(entwerfen: ja, lediglich fertigen: nein). Er sucht seine Harmonie in den Beruf hinein
zu retten, und es ist gut so, daß der Mensch, der erst in die Welt tritt, viel von
sich hält, daß er alles möglich zu machen sucht. Gleichwohl spricht sich in seiner
jugendlichen Unbefangenheit etwas aus, was wohl nicht nur die Jugend betrifft, daß
uns nämlich die Höhe reizt (Diplomat, Philosoph), nicht die Stufen und daß wir den
Gipfel im Auge gern auf der Ebene wandeln.
Während im Leben schließlich ein Übergewicht von außen die Wahl zu bestimmen
(und Wünsche zu vereiteln) pflegt, ist in diesem Film alles Frage und Antwort, Musik.
Wie Aus- und Einatmen bewegt es sich hin und wider, so daß zuletzt eine selig bewegte
Ruhe über mich kam. Dazu das Magische der Umgebung: indem der Tag abnimmt und
es allmählich dunkler wird, macht sich das Kunstlicht immer mehr geltend, die Gestalt
des jungen Mannes reliefartig hervorhebend und ihn mir auch äußerlich näher und
näher bringend. (Peter NAU)